Es sind weniger Menschen gekommen am dritten Tag der Proteste in Beit Lahia im Gaza-Streifen. Knapp 200 Demonstranten haben sich um 15.30 Uhr am Donnerstag auf der Hauptstrasse der weitgehend zerstörten Stadt versammelt, um ein Ende des Krieges und ein Ende der Hamas-Herrschaft in Gaza zu fordern, gestern waren es mehr als 1000.
«Wir sind extrem wütend auf beide Seiten, Israel und die Hamas», sagt der 64-jährige Abu Saeed Felfel aus Beit Lahia. «Wir sind die Unterdrückten, wir bezahlen den Preis.»
Er habe wie viele andere sein Zuhause, zahlreiche Verwandte und seinen gesamten Besitz verloren. Er sei der Hamas-Herrschaft müde. «Wir wollen eine neue Regierung, eine demokratische, in der wir selbst entscheiden können, wie wir Gaza wieder aufbauen.»
Den 7. Oktober nennt Felfel «sehr schwer und absolut unerwartet». Die absolute Zerstörung, die die Armee aber seither über Gaza und seine Schulen, Moscheen, Hospitäler und Wohnhäuser gebracht habe, sei in seinen Augen ungerechtfertigt. «Sie unterscheiden nicht mehr, das ist ein Krieg gegen Kinder und Frauen, es ist ein Völkermord», sagt Felfel. Mehr als 50'000 Menschen wurden nach Angaben des von der Hamas geleiteten Gesundheitsministeriums seit Kriegsbeginn getötet.
Die Proteste seien spontan entstanden, aus dem Schock nach der Pause der Waffenruhe plötzlich wieder zu Krieg und Vertreibung zurückzukehren. «Wir wollen den Krieg beenden, und dass die Hamas-Regierung ihre Macht abgibt.»
Es sind die grössten Hamas-kritischen Demonstrationen seit dem Beginn des Krieges. In der Regel werden solche ohnehin äusserst seltenen Proteste in Gaza von der Terrorgruppe brutal unterdrückt, Teilnehmer festgenommen und verprügelt, ihre Familien bedroht.
Die Gruppe hatte bereits am Dienstagabend versucht, die Proteste herunterzuspielen. Sie würden sich vor allem gegen das Leid infolge des Krieges richten, teilte Sprecher Bassem Naim mit. Die Slogans der Demonstrierenden sprechen hingegen eine deutliche Sprache: «Hamas raus» und «Nieder mit der Hamas» ist auf zahlreichen Videos internationaler Nachrichtenorganisationen zu hören.
In Beit Lahia halten am Donnerstag Kinder weisse Plastikplanen hoch, auf die Parolen gesprüht wurden. «Ich habe ein Recht auf ein Leben in Frieden», steht auf einem. «Beendet den Krieg» ist auf einem anderen geschrieben. Die meisten Teilnehmer sind Männer jeden Alters. Vereinzelt beobachten Frauen den kleinen Zug von der Seite oder aus den Fenstern der wenigen noch stehenden Häuser.
Ein Stück weiter läuft Ahed al-Masri aus Beit Lahia. Für den 49-Jährigen gehen die Probleme weit vor den Hamas-Überfall am 7. Oktober 2023 zurück, bei dem rund 1200 Menschen getötet und rund 250 nach Gaza verschleppt wurden. «Seit 18 Jahren kommen wir keinen Schritt voran», sagt er. «Wir wollen, dass unsere Kinder in Frieden leben und eine sichere Zukunft haben.»
Die Hamas regiert seit 2007 den Gaza-Streifen, nachdem sie zuvor die Wahlen zum palästinensischen Legislativrat knapp vor der rivalisierenden Fatah gewonnen hatte.
Doch sein Protest richte sich nicht in erster Linie gegen die Hamas. Er wolle vor allem Selbstbestimmung, betont al-Masri. Es sollten die Menschen in Gaza sein, die über ihre Zukunft entscheiden könnten, «nicht jene, die in Hotels unter sicheren Dächern sitzen und gutes Essen geniessen», sagt er und meint die Hamas-Führungsriege im Exil. «Sie entscheiden, was richtig für uns ist, wer hat ihnen das Recht dazu gegeben?»
Dass die Hamas seit ihrem Überfall auf Israel an Unterstützung verloren hat, zeichnete sich schon zuvor ab. Offener Widerstand aber war mit wenigen Ausnahmen, etwa einem kleinen Protest Anfang 2024 in Rafah, ausgeblieben.
Am Donnerstag sind im Umfeld der Demonstration einige bewaffnete Hamas-Mitglieder zu sehen, die jedoch nicht einschreiten. Mehrere Menschen seien jedoch vor dem Beginn der heutigen Proteste gewarnt worden, «nicht zu übertreiben», woraufhin mehrere Teilnehmer wieder gegangen seien.
Al-Masri will trotzdem weiter protestieren. Er sei den ganzen Krieg geduldig geblieben und habe sein Schicksal ohne Protest ertragen. Als er nach der Waffenruhe zu seinem Haus zurückkehrte und nur Ruinen fand, habe er seine Trauer heruntergeschluckt und mit dem Aufräumen begonnen. «Und jetzt kommt der Krieg zurück, wir haben keine Kraft mehr, weiter durchzuhalten.»
Laut Hilfsorganisationen werden nach fast einem Monat kompletter Abriegelung des Küstenstreifens durch Israel zudem so gut wie alle Vorräte knapp. «Es kommt nichts herein», sagt Clemence Lagouardat von Oxfam. Die schwindenden Vorräte stellten die Helfer bei der Versorgung der mehr als zwei Millionen Menschen im Küstenstreifen zunehmend vor «unmögliche Entscheidungen».
Doch es gibt auch andere Stimmen unter den Demonstranten in Beit Lahia. Einer der Organisatoren, der anonym bleiben möchte, kritisiert, wohin sich der Protest entwickelt habe. «Unser Ziel war, den Krieg zu beenden», sagt er. «Wir sind nicht gegen die Hamas oder den Widerstand.» Andere hätten die Unzufriedenheit ausgenutzt, um ihre politischen Interessen zu platzieren. Es solle bald einen Aufruf für ein Ende der Proteste geben.
Auch der 32-jährige Mohammed sagt: «Die Hamas muss als Regierung gehen, nicht aber als Widerstandsorganisation.» Deren Regierung habe der Bevölkerung im Gaza-Streifen nichts gebracht, sie aber viel gekostet. «Das palästinensische Volk hat enorm gelitten in den vergangenen 18 Monaten», sagt er. Es werde aber auch weiter leiden, «bis Palästina vollständig befreit ist.» (aargauerzeitung.ch)
Sehr schwierig zu beurteilen aus der Ferne. Aber ich frage mich, wieso nicht die Freilassung und Rückgabe aller Geisseln gefordert wird. Das könnte sogar mit vielen Regierungsmüden Israeli zusammen passen. In der Konsequenz wäre man gleich Bibi und die Hamas los.
Naiv, ich weiss, aber hoffen darf man 🙄
Späte Einsicht, ich bin gespannt ob was daraus wird.